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NEUE DEUTSCHE BIOGRAPHIE
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Quidde, Ludwig, Historiker,
Pazifist, * 23. 3. 1858 Bremen, † 5. 3. 1941 Genf.
(ev., seit 1890 konfessionslos).
V Ludwig August (1821-85), Kaufmann, Teilhaber e. Großhandelsfirma, S d. Carl Christoph Friedrich (1786-1845), Justizkommissar u. Stadtrat in Halberstadt, u. d. Emilie Jäger (1792-1864); M Anna Adelheid (1837-68), T d. Georg Cassebohm (1804-51), Handelsmakler in Bremen, u. d. Metta Ehlers (1802-65); B Rudolph (1861-1942), Richter, Präsident d. Bremer. Bürgerschaft (s. L∞ Königsberg (Pr.) 1882 Margarethe (1858-1940, jüd., später ev.), Musikerin, Schriftst. (s. Rhdb.; Musik u. Gender im Internet), T d. Julius Jacobson (1828-89), Dr. med., Geheimer Medizinalratrat, Prof. d. Augenheilkunde an d. Univ. Königsberg (s. NDB X), u. d. Hermine Haller, aus Wien, ghzgl. sachsen-weimar. Hofopernsängerin; Lebensgefährtin Charlotte Kleinschmidt (1891-1974), aus Berlin; 1 unehel. T (Mündel ).
); -Q. studierte seit 1877 in Straßburg
Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre
und setzte 1878 sein Geschichtsstudium in Göttingen fort, wo er
sich unter der
Anleitung Julius
Weizsäckers (1828-89) in die Edition der Reichstagsakten
(Ältere Reihe) einarbeitete und 1881 promoviert wurde. In
Göttingen ergriff er
Partei gegen die studentische Antisemitenagitation (Die
Antisemitenagitation
u. d. deutsche Studentenschaft, 1881). Seit 1881 Mitarbeiter bei
der Edition
der deutschen Reichstagsakten (Ältere Reihe) durch die Historische
Kommission
bei der Bayer. Akademie der
Wissenschaften (BAdW), übersiedelte Q. nach
Frankfurt/M., wo er Verbindung mit der DVP aufnahm. Seine Entscheidung
für die
Editionstätigkeit und für den Verzicht auf
Habilitationspläne wurde durch eine
Erbschaft erleichtert, die ihm durch den Tod seines Vaters zufiel. 1887
wurde
Q. zum ao. Mitglied der Historischen
Kommission der BAdW gewählt, 1889 als
verantwortlicher Redaktor der Edition zum Nachfolger Weizsäckers
berufen. Im
selben Jahr gründete er die „Deutsche Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft“.
Private sowie forschungs- und editionsorganisatorische
Gründe veranlaßten
1890 Q.s Übersiedlung nach München. Im selben Jahr unter
Ernennung zum
Professor als Leitender Sekretär des Preußischen
Historischen Instituts in Rom
berufen, ließ sich Q. 1892 von dieser Aufgabe wieder entbinden.
Seine Leistung
als Editor fand Anerkennung durch seine Wahl als ao. Mitglied in die
Historische Klasse der BAdW. Q. war
der eigentliche Organisator des ersten
Deutschen Historikertages 1893 in München, auf dem er sich
für den Widerstand
der Geschichtswissenschaft gegen jeden Versuch ihrer Vereinnahmung
für
staatliche Zwecke einsetzte. Mit der gegen Kaiser Wilhelm
II. gerichteten Satire
„Caligula, Eine Studie über röm. Cäsarenwahnsinn“ (1894)
erregte er einen
Eklat, der ihm jede Aussicht auf eine Professur an einer dt.
Universität verbaute,
beinahe zum Verlust seiner Editorenstellung führte und ihn infolge
des Boykotts
der Fachgenossen zur Aufgabe seiner Zeitschrift zwang. 1896 wurde er
aus
nichtigem Anlaß wegen Majestätsbeleidigung zu einer
dreimonatigen
Gefängnishaft verurteilt.
Seine Marginalisierung in der
Geschichtswissenschaft kompensierte Q.
durch seine politische Tätigkeit für die DVP, deren Agitation
im
Reichstagswahlkampf 1893 er mit der Schrift „Der Militarismus im
heutigen deutschen
Reich, Eine Anklageschrift, Von einem deutschen Historiker“ (1896)
unterstützte und
der er sich wenig später anschloß. Seit 1896 stand er an der
Spitze des
Demokratischen Vereins in München und der bayer.
Landesorganisation der DVP,
die er seit der Jahrhundertwende im Münchener Gemeindekollegium,
seit 1907 im bayer.
Landtag vertrat und für die er mit der „Münchener Freien
Presse“ 1895 ein Organ
für Oberbayern schaffen half.
Neben der politischen Arbeit und dem Kampf
gegen Vivisektion stand die
pazifistische Tätigkeit im Vordergrund von Q.s öffentlichem
Wirken. Eine Brücke
von seinen historischen Forschungen zum Pazifismus schlug sein
Interesse an der
Geschichte der Landfriedensbewegung und der Überwindung
des Fehderechts im
späten Mittelalter. Q. wurde 1894 Gründer und Leiter des
Münchener Friedensvereins.
Er beteiligte sich an der Agitation für die dt. Teilnahme an der
Ersten Haager
Friedenskonferenz von 1899 und für die Beendigung des
Burenkrieges. Seit 1902
gehörte er dem Präsidium der Deutschen
Friedensgesellschaft an, die er als Mitglied,
später auch als Vizepräsident des Rates des
Internationalen Friedensbüros
(IFB) in Bern (später Genf) vertrat. Außerdem war er
Mitglied der dt. Gruppe
der Interparlamentarischen Union. Intensiv setzte er sich
für eine dt.-franz.
Verständigung ein, weshalb er z. B. 1913 an der dt.-franz.
Parlamentarierkonferenz in Bern teilnahm. Seit 1914 Vorsitzender
der Dt.
Friedensgesellschaft, vermochte er während des 1. Weltkriegs deren
Spaltung
abzuwenden. Der Reichsleitung gegenüber vertrat er
pazifistische Positionen in
der Kriegszielpolitik, sah sich aber dem Vorwurf radikaler Pazifisten
im In-
und Ausland ausgesetzt, er habe dem dt. Annexionismus bedenkliche
Zugeständnisse gemacht.
1918/19 trat Q. in den provisorischen Bayer.
Nationalrat als dessen
Vizepräsident ein. Als Abgeordneter der DDP votierte er in der
Weimarer
Nationalversammlung gegen die Unterzeichung des Vertrags von
Versailles. 1924
entging er knapp einem Prozeß wegen angeblichen Landesverrats, da
er die
vertragswidrigen dt. Rüstungen öffentlich kritisiert hatte.
1927 erhielt er mit
Ferdinand Buisson (1841-1932) den Friedens-Nobelpreis.
Während er im Vorsitz
des Dt. Friedenskartells weniger angefochten war, sah er sich wegen
seiner
moderaten pazifistischen Linie 1929 durch radikalere Kräfte aus
der Führung der
Dt. Friedensgesellschaft verdrängt, blieb aber bis 1931 deren
Mitglied. 1930
verließ er die DDP wegen ihrer Entwicklung nach rechts und
beteiligte sich an
der Gründung der Radikaldemokratischen Partei.
Die Errichtung des NS-Staates zwang ihn 1933
ins Exil nach Genf, wo Q.
weiterhin im IFB mitwirkte. Bereits in den 20er Jahren verarmt und auf
Einnahmen aus journalistischer Arbeit angewiesen, auch um den Ertrag
des
Friedens-Nobelpreises gebracht, lebte er im Exil in bescheidenen
Verhältnissen,
die nur durch jährliche Zuwendungen des Osloer Nobel-Komittees
für eine
Darstellung der Geschichte der dt. Friedensbewegung im 1. Weltkrieg
erträglicher wurden. Zur Linderung der Not exilierter Pazifisten
baute Q. eine
Hilfsorganisation auf. Von der Historischen
Kommission bei der BAdW wurde er
1935 aus seiner Editorenstellung entfernt. 1940 verfügte der
NS-Staat seine
Ausbürgerung.
Als Politiker mit
großdeutsch-demokratischer Orientierung stand Q. in
der Tradition der März-Revolution. Er war Repräsentant des
„bürgerlichen“ und
demokratischen Pazifismus in Deutschland, in welchem sich
weltbürgerliche
Gesinnung mit Patriotismus, die Bejahung des nationalen
Verteidigungskriegs mit
dem Willen zum friedlichen Ausgleich unter den Völkern,
Realitätssinn mit
Pragmatismus in der Methode verbanden. Er vertrat einen Pazifismus,
der,
ausgehend vom ethischen Rigorismus Immanuel Kants, den Friedenswillen
im
wesentlichen als Ausdruck individueller Einsicht, Entscheidung und
Anstrengung
begriff.
Weitere W Kg. Sigmund u. d. Dt. Reich v. 1410 bis 1419, 1. Die Wahl Sigmunds, Diss. Göttingen 1881; Der Rhein. Städtebund v. 1381, in: Westdt. Zs. f. Gesch. u. Kunst 2, 1883, S. 323-92; Die Entstehung d. Kurfürstencollegiums, Eine vfg.geschichtl. Unters., 1884; Der Schwäb.-Rhein. Städtebund im J. 1384 bis z. Abschluß d. Heidelberger Stallung, 1884; Stud. z. Dt. Vfg.- u. Wirtsch.gesch., 1. Stud. z. Gesch. d. Rhein. Landfriedensbundes v. 1259, 1885; Vorwort zu: O. Hartmann, Die Volkserhebung d. J. 1848 u. 1849 in Dtld., 1900; Histoire de la paix publique en Allemagne au moyen âge, in: Ac. de droit internat., Recueil des cours 1929, III, T. 28, 1930, S. 453-597; Sicherheit u. Abrüstung, Vortrag gehalten am 12. Dez. 1927 in d. Aula d. Univ. Oslo, in: A. Hartung (Hg.), Der Friedens-Nobelpreis, Stiftung u. Verleihung, Die Reden d. vier dt. Preisträger, o. J. (1972), S. 41-59 (P); Caligula, Schrr. üb. Militarismus u. Pazifismus, hg. v. H.-U. Wehler, 1977; Der dt. Pazifismus während d. Weltkrieges 1914-1918, Aus d. Nachlaß L. Q.s, hg. v. K. Holl unter Mitwirkung v. H. Donat, 1979 (P). - Hg.: Dt. Zs. f. Gesch.wiss., 12 Bde., 1889-95; Freiheitsklänge, Eine Slg. v. Liedern u. Gedichten, Weckrufe aus alten u. neuen Freiheitskämpfen, 1896.
L H. Wehberg, in: Die Waage 25, 1922, S. 61-63; ders. (Hg.), L. Q., Ein dt. Demokrat u. Vorkämpfer d. Völkerverständigung, 1948; G. Seger (Hg.), Der Fall Quidde, Tatsachen u. Dok., 1924; Btrr. z. 80. Geb.tage v. L. Q., in: Die Friedens-Warte, Jg. 1938, S. 71-119 (P, W-Verz.); U.-F. Taube, L. Q., Ein Btr. z. Gesch. d. dem. Gedankens in Dtld., 1963 (W-Verz.); K. Holl, in: liberal 13, 1971, S. 224-29; ders., in: H. Donat u. K. Holl (Hg.), Die Friedensbewegung, Organisierter Pazifismus in Dtld., Österr. u. in d. Schweiz (Hermes Handlex.), 1983, S. 316 ff. (P); ders., in: H. Josephson (Hg.), Biogr. Dict. of Peace Leaders, 1985, S. 774-77; ders., in: Ch. Rajewsky u. D. Riesenberger (Hg.), Wider d. Krieg, Gr. Pazifisten v. Immanuel Kant bis Heinrich Böll, 1987, S. 133-38; ders., German Pacifists in Exile, 1933-1940, in: Ch. Chatfield u. P. v. d. Dungen (Hg.), Peace Movements and Political Cultures, 1988, S. 165-83; ders., in: H. Donat u. A. Röpcke (Hg.), „Nieder die Waffen - die Hände gereicht!“, Friedensbewegung in Bremen 1898-1958, Ausst.kat. Bremen 1989 (P); ders., in: Der Friedens-Nobelpreis v. 1901 bis 1932, 1989, S. 142-53 (P); ders., Zum Q.-Porträt d. Bremer Malers Hans Lehmkuhl, in: Brem. Jb. 70, 1991, S. 11-16 (P); ders., L. Q.s Prager „Schützlinge“ 1935-1938, in: Exil, Forsch., Erkenntnisse, Ergebnisse XIV, 1994, S. 70-77; ders., H. Kloft u. G. Fesser, Caligula, Wilhelm II. u. d. Caesarenwahnsinn, Antikenrezeption u. wilhelm. Pol. am Beisp. d. „Caligula“ v. L. Q., 2001; ders., in: Das Kaiserreich, Portrait e. Epoche in Biogrr., hg. v. M. Fröhlich, 2001, S. 262-74; R. Rürup, in: H.-U. Wehler (Hg.), Dt. Historiker, 1973, S. 358-81; B. M. Goldstein, L. Q. and the Struggle for Democratic Pacifism in Germany 1914-1930, Diss. New York 1984; R. Schumann, in: O. Groehler (Hg.), Alternativen, Schicksale dt. Bürger, 1987, S. 93-131; I. Abrams, The Nobel Peace Prize and the Laureates, An Illustrated Biogr. Hist. 1901-1987, 1988, S. 106 ff. (P); Rhdb. (P); Brem. Biogr. (auch zu Rudolph); BHdE I; Demokrat. Wege (P); - Fernsehfilm v. H. Bretschneider (Bayer. Rundfunk, 2002); - Gesch. d. Bayer. Parlaments 1819-2003; Nobelprize, Prize Awarders; - Nachlaß größtenteils im BA Koblenz.
P Gemälde v. H. Lehmkuhl, 1930 (Privatbes., als Dauerleihgabe im Focke-Museum, Bremen; dort auch e. Slg. v. Fotos); Gem. v. J. Beilin, 1937 (Genf, später München, verschollen); Gem. v. dems., undatiert (Privatbes.); Büste, um 1930 in Berlin entstanden, verschollen.
Karl Holl
Image des Originalartikel in: NDB
21 (2001), S. 45-47 / PDF-Datei
zum Ausdrucken
Weitere Literatur zu Quidde in DNB
bzw. ÖBV
u. BVB
Vorlage:
Neue Deutsche Biographie, hg. v. d. Historischen Kommission bei der
Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, Bd. 21, Berlin 2003, S. 45-47.
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